Photographie und Klassik

Die russische Fotografie hat die zehn Jahre einer stürmischen Entwicklung nach der Perestrojka erlebt. Und obwohl dieser Prozeß noch nicht zu Ende ist, sind seine Haupttendenzen schon relativ offensichtlich. Der eiserne Vorhang wurde gehoben und die Welttendenzen kamen auch nach Rußland. Die gegenwärtige unifizierte Kunstsprache haben sich russische Fotografen und Künstler schnell angeeignet. Der Verlust der eigenen Stilexklusivität der vaterländischen Fotografieschule, hat vielen Künstlern den Anstoß zur Suche nach der "neuen Exklusivität", nach dem "eigenen Arbeitsfeld" gegeben. Die Arbeitsbereiche ihrer Suche sind relativ groß. Darum möchte ich mich nur mit einem kleinen Aspekt dieser Suche auseinendersetzen, nämlich mit der Bewegung in Bezug auf jene Klassik, die in der Petersburger Kultur besonders augenfällig ist.
In der Periode des kalten Krieges hatte man von der Kultur Westeuropas eine Vorstellung als einer gegenwärtigen, modernen, fortschrittlichen Kultur und von der osteuropäischen als einer konservativen, ideologisierten, nicht freien Kultur. Vom Standpunkt der Kunstgeschichte scheint es, daß der ästhetische Krieg, der zu Beginn des Jahrhunderts in ganz Europa um die Klassik geführt wurde, dort vom Osten aufgegriffen wurde, wo "linke" Kommunisten sie in den Dienst ihrer Ideologie stellten. Aber der kalte Krieg endete mit der Niederlage des Kommunismus, der Westen bot dem Osten Europas seine Kunstformen an, das östliche Europa nahm sie dankbar an, und die klassische Kultur verlor ihre Areale, indem sie durch die moderne Kunst verdrängt wurde. Die endgültige Verdrängung der Klassik veranlaßte einige Autoren, sie zu einem Problem der Kulturökologie zu erklären.
Kehren wir aber nach Petersburg zurück. Im Unterschied zum übrigen Rußland hat Petersburg nur eine dreihundert Jahre alte Geschichte. Sie wurde als eine klassizistische Stadt gegründet, als Verkörperung der von Peter dem Großen wiederbelebten Idee des klassischen Reiches, das die Romanovs von Paleologen geerbt hatten. Peter I. brachte die klassische Ästhetik aus dem Westen nach Petersburg. Neue Tendenzen drohen mit ihrer Zerstörung. Aber Petersburg hat schon zu Beginn des Jahrhunderts eine Periode des aktiven Kampfes der russischen Avantgarde gegen die klassische Kultur erlebt, was der gegenwärtigen Kunstsituation den Reiz der Neuheit entzieht. Bemerkenswert ist, daß sich Avantgarde-Künstler von der Klassik angezogen fühlen. "Das Neue ist das gut vergessene Alte."
Die Fotografie wurde als eine neue Kunstart in einer Zeit entwickelt, als in Europa die klassische Ästhetik herrschte und ihre ersten Experimente darauf gerichtet waren, für die Herstellung eines klassischen Fotobildes die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Die Fotografie steht in der ganzen Welt genetisch bedingt der Klassik viel näher, als der Mainstream der bildenden Kunst. Nicht zufällig machen viele Künstler der Postmoderne ihre Fotoarbeiten zu klassischen "Gemälden". Aber wenn die postmoderne "Glasnost" den kampflustigen Schöpfem des Neuen nur ein bißchen Altes gestattet, lehnt der Petersburger "Neoakademismus" Novationen bewußt ab und kehrt zu klassischen Kanons, zur Bildlichkeit und Komposition unter grünen Fahnen der ökologischen Auffassung des kulturellen Erbes zurück.

Timur Novikov

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TIMUR NOVIKOV - IN MEMORIAM

Zu den Idealen des Akademismus